von Hannelore Vonier

Im vorigen Beitrag dieser Serie kam folgender Einwand im Kommentarbereich:

dies sind für mich zwei paar Schuhe: ob ich mir auferlege, nicht das einem anderen Menschen zuzufügen, was ich auch nicht zugefügt haben möchte – oder ob ich sage: ich tue jenes einem anderen Menschen, damit er mir gleiches zurückgebe…

Die Goldene Regel wird in den verschiedenen Schriften und Religionen mal positiv, mal negativ formuliert. Es handelt sich aber um dasselbe Konzept: Reziprozität, ausgleichen, eine Handlung spiegeln. Also so tun, als hätten andere keine individuellen Bedürfnisse.

Die negative und positive Variation sind zwei Seiten der gleichen Medaille.

Positiv:

„Verhalte dich anderen gegenüber so, wie du wünschst, dass sie sich dir gegenüber verhalten.“

Negativ:

„Behandle andere nicht so, wie du nicht behandelt werden willst“

Die Regel appelliert in beiden Fällen an deine Vorbildlichkeit und beinhaltet, dass du mit einer gleichen Behandlung zu rechnen hast – je nachdem, was du tust bzw. unterlässt.

Die Goldene Regel versucht komplexe Persönlichkeiten zu versimplizifieren

Beispiel: Geschenke. Leute schenken andern etwas zum Geburtstag und erwarten an ihrem Geburtstag ebenfalls ein Geschenk. Wenn jemand nichts schenkt, bekommt sie auch nichts zurück.

Dies entspricht der Fomulierung im Kommentar „ich tue jenes einem anderen Menschen, damit er mir gleiches zurückgebe…“.

Jetzt meine persönliche Situation: Ich will keine Geschenke. Ich empfinde sie als Ballast und gebe sie den Leuten wieder mit, falls sie meinen Wunsch nicht respektieren; bei einer Einladung beispielsweise. Dies entspricht der Formulierung im Kommentar “einem anderen Menschen zuzufügen, was ich auch nicht zugefügt haben möchte“.

Der Goldenen Regel und ihrer Gleichmacherei folgend wäre die Konsequenz, dass ich andern nichts schenke, weil ich selber nichts will.

Dann aber würde ich die Eigenwilligkeit anderer nicht respektieren, denn ich weiß, dass sich manche Leute über Geschenke freuen. Und wenn mir etwas einfällt, von dem mir bekannt ist, dass es jemand mag, dann bringe ich ihr das Geschenk mit.

Eine Leserin hat folgendes metaphorische Beispiel zum Thema beigetragen:

Es gibt doch die Metapher von den zwei Uraltschwestern, wo die eine zu ihrem 90. Geburtstag fragt, ob sie mal die obere Hälfte des Brötchens essen dürfe. Beide haben zu Gunsten der anderen auf ihre Lieblingsbrötchenhälfte verzichtet, weil sie annahmen, es sei auch die der anderen.

Es ist also egal, ob ich mit Begriffen operiere, die gesellschaftlich negativ („zufügen, antun“) oder positiv („zurück geben“) bewertet werden.

Betrachtet man den individuellen Fall, empfindet der eine etwas als Zumutung, was der anderen gefällt. Und verwendet man das neutrale Wort ‚revanchieren‘, so sieht man, dass es sowohl positiv als auch negativ verstanden werden kann.

  • Ich revanchiere mich und lade dich zum Essen ein.
  • Ich revanchiere mich und haue dir auch eine runter.

Die Goldene Regel ist in der Praxis unbrauchbar

Die Goldene Regel, die im Patriarchat als grundlegendes ethisches Prinzip verstanden wird – hoch bewertet – ist gleichzeitig reine Theorie.

Das liegt an der Struktur einer hierarchischen Gesellschaft. Kinder können ihren Eltern nicht Gleiches antun, wenn sie zum Gehorsam gezwungen werden. Angestellte können sich nicht beim Chef revanchieren, wenn sie einen Bonus bekommen. Almosenempfänger können nicht zurückgeben. Bürger und Steuerzahler können Regierenden bei Missbrauch des Amtes nicht Gleiches mit Gleichem vergelten.

Hierarchie besteht aus einer Linie von Abhängigen, wo die Goldene Regel nicht anwendbar ist.

Für wen ist sie eigentlich da?

Hier geht es zur Quelle: Die Goldene Regel – reine Theorie